Freitag, 22. Februar 2013

Alkoholismus in Indien. Eine Case Study

Wir sitzen im Schatten der Palmen auf einer Hausterrasse in einem kleinem Dorf namens Kunjampalayam. Wir warten auf eine Person, mit der wir schon sehr lange reden wollen…Eine Frau, die in ihrem Leben viel durchmachen musste und an diesem Tag will sie uns ihre Geschichte erzählen.

In der schwülen Ferne erkennen wir langsam eine Silhouette sich uns nähern. Wir stehen auf und sehen zu wie die Person im Licht der goldenen Abendsonne uns entgegenläuft, bis sie schließlich klar vor uns steht und wir ihr die Hand zur Begrüßung ausstrecken. Wir stellen uns vor. Sie heißt Rita und wir sind zwei Freiwillige aus Deutschland, die sehr froh darüber sind, dass sie heute mit uns reden möchte. Ja, wir sind wirklich sehr froh darüber, dass wir jemanden gefunden haben, der bereit ist zu reden. Der bereit ist über ein Problem zu reden, das so viele Frauen in Indien betrifft und über welches eigentlich nicht geredet wird.

Die Rede ist von Alkoholismus und dessen Auswirkungen auf viele indische Familienleben. Schon oft haben wir Geschichten von Männern gehört, die im betrunkenen Zustand ihre Ehefrauen zusammenschlagen, Frauen auf der Straße belästigen und vergewaltigen. Schon oft haben wir in Zeitungen gelesen, dass sich eine Frau umgebracht hat, weil sie ihr Leben mit ihrem Mann nicht mehr ertragen hat.

Alkohol zu trinken – auch als Genussmittel - ist in Indien verpönt und deshalb gibt es auch keinen offenen Umgang mit dem Thema. Trotzdem ist es definitiv ein sehr großes Problem, womit sowohl die indische Gesellschaft als auch Politik zu kämpfen haben. Hauptsächlich sind es aber wohl die Frauen, die kämpfen müssen, denn sie tragen bei der Sache das größte Leid.

Foto Rita Genau wie Rita.

Rita ist seit ihrem 13. Lebensjahr mit Sanmughan verheiratet.

Nach der Heirat lebten Rita und ihr Ehemann bei Ritas Schwiegereltern. Mit nur 15 Jahren bekam Rita ihr erstes Kind. Alles sah danach aus als ob Rita ein ganz „normales“ Leben führen wird, doch ihr Ehemann fing an sich charakterlich zu verändern.

 

Rita kann uns weder sagen wann ihr Ehemann das Trinken anfing, noch weshalb. Sie vermutet, dass er mit Freunden aus der Nachbarschaft anfing zu trinken und aus einigen Gelegenheiten entwickelte sich eine Regelmäßigkeit. Die Schwiegereltern duldeten ihren trinkenden Sohn nicht mehr im Haus und warfen ihn und seine Familie vor die Tür.

Die Familie zog in das Nachbardorf Kunjampalayam, wo Ritas Ehemann versuchte einen Neuanfang zu wagen, in dem er eine Fahrradwerkstatt eröffnete. Dafür nahm er sich das hart verdiente Geld von Rita, die als Hausmädchen inzwischen Arbeit bei sechs verschiedenen Familien gefunden hat. Sechs Familien wurden täglich von ihr bedient. Sie kochte, putzte und wusch die Wäsche. Und sie tut es auch heute noch. Zehn Stunden täglich. Seit neun Jahren.

Das Geschäft lief nicht gut, berichtet Rita uns, und ging nach drei Jahren pleite. Denn statt das verdiente Geld sinnvoll für das Geschäft oder die Familie zu nutzen verwendete ihr Ehemann es lieber für sein inzwischen zur Sucht gewordenes Alkoholvergnügen.

Rita muss nun als „der Brotverdiener“ der Familie einspringen. Vier Kinder und ein hungriger Ehemann sind zu füttern und um mit dem verdienten Geld über die Runden zu kommen zahlen die Familien, ihre Arbeitgeber, Rita sogar im Voraus.

Als wäre das schon nicht genug, beschuldigt Ritas Ehemann sie der Untreue. Er kann sich nicht erklären woher das Geld kommt, das ihm auch seine Alkoholsucht finanziert. Nein, hinter dem Geld steckt kein anderer Mann. Hinter dem Geld steckt eine starke hart arbeitende Frau, die versucht ihren Kindern jeden Tag eine warme Mahlzeit zu servieren und sie in die Schule schickt.

Ritas Ehemann glaubt ihr nicht und schlägt sie für ein Verbrechen, das nicht verbrochen wurde. Für Gründe, die nicht existieren.

Wir fragen Rita, wieso sie ihren Ehemann nicht schon längst verlassen hat. Daraufhin erzählt sie uns, dass ihr Vater ihre Mutter für eine andere Frau verlassen hat. Sie hat ihn nie kennen gelernt und musste ohne einen Vater aufwachsen.

Rita hält für einen Moment inne. Tränen laufen ihr über die Wange und es wird ganz still.

Mutig fasst sie nach Worten und erzählt weiter. Sie erzählt von ihrer Mutter, die vor einigen Jahren gestorben ist und ihren Geschwistern, die den Kontakt mir ihr abgebrochen haben wegen ihres alkoholabhängiges Mannes.

Rita ist ganz alleine. Niemand steht ihr mit ihren Problemen zur Seite. Aber Rita ist für ihre Kinder da. Sie will nicht, dass ihre Kinder ohne Vater aufwachsen. Das sei noch schlimmer, als ein Vater, der trinkt, der kein Interesse an seiner Familie zeigt - den man eigentlich nur noch schwer als Vater bezeichnen kann.

Nein, sie bleibt bei ihrem Ehemann auch wenn sie die Hoffnung auf Besserung schon längst aufgegeben hat. Sie bleibt bei ihren Kinder, für die sie eine gute Mutter sein will und ohne die sie das alles nicht schaffen würde.

Ihr jüngster Sohn Brama, gerade mal vier Jahre alt, sitzt auf ihrem Schoß. Er hat keine Angst vor seinem Vater. Dieser junge, kleine und unglaublicher Junge stellt seinem Vater Fragen. “Warum trinkst du so viel? Warum schlägst du meine Mutter? Warum kümmerst du dich nicht?” Unfähig, ihm eine Antwort zu geben, hat sein Vater wenigstens aufgehört jeden Tag im Haus vor den Kindern zu trinken.

Rita betet jeden Tag zu Gott, dass er ihr Kraft gibt und zur Seite steht.

Im letzten Monat haben wir noch mit einigen anderen Menschen gesprochen, die alle auf verschiedene Weise von Alkoholismus betroffen sind. Jede einzelne Geschichte hat uns sehr beeindruckt.

Foto Jaithoon Jaithoon, 38. Ihr Mann trinkt seit über 20 Jahren, schlägt sie und die Kinder, verleumdet sie im Dorf. Sie arbeitet, kümmert sich um die Kinder, geht arbeiten und wehrt sich gegen die Beleidigungen ihres Mannes. “Warum sollte ich weinen? Weinen wird es doch nicht besser machen. Ich kann arbeiten und ich bin stark.” Sie lächelt. Eines Tages, da ist sich Jaithoon sicher, wird sie ihren Mann zusammen mit ihrer Tochter verlassen und ein eigenes Leben aufbauen.

 

 

Foto Murugan

 

 

Murugan, 50, ehemaliger Alkoholiker, der über 20 Jahre lang regelmäßig getrunken und sich mit seiner Familie zerstritten hat. Bis er eines  Morgens zufälligerweise eine Yogasendung im Fernsehen gesehen hat. Murugan beschloss, ein Yogacamp zu besuchen und hat erste Praktiken von einem Master gelernt. Seit über acht Jahren  macht er jeden Tag mindestens eineinhalb Stunden Yoga, geht spazieren und ist glücklich. Er hat seit dem keinen Schluck Alkohol mehr getrunken. “Yoga hat mir geholfen, mich selbst zu verstehen und meinen Körper zu kontrollieren.”

Die diesjährigen Freiwilligen 2012/13

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